12. September 2023
Der Roman „Winterherz“ liest sich leicht und flüssig, ein bisschen wie ein Kinderbuch. Sehr gefällig wird die Geschichte des 14jährigen Wilhelm erzählt, der wegen eines Herzleidens unklarer Ursache einige Wochen vor Weihnachten in einem Sanatorium in Ostdeutschland verbringen muss. Zeitlich siedle ich die Erzählung Mitte oder Ende der 60er Jahre an. Die DDR gibt es jedenfalls im Buch bereits. Im Lauf der Geschichte lernen wir sowohl Wilhelms eigene Leidensgeschichte wie auch diejenige seiner Zimmergenossen kennen. Verbunden sind die Patienten alle miteinander durch ihre Herzkrankheiten. Keiner von ihnen weiss, wie lange er noch zu leben hat. Also versuchen die Kinder, die Zeit, die sie noch haben, so gut es geht zu nutzen. Die Jungen erleben diverse Abenteuer miteinander, verstossen gegen die Klinikregeln und festigen immer mehr ihre Freundschaftsbande.
Wer jetzt allerdings eine berührende Weihnachtsgeschichte über allerhand Kinderstreiche erwartet hat, dem sei gesagt, dass dieses Buch mit Vorsicht zu lesen ist. An etlichen Stellen im Buch wären nämlich durchaus Triggerwarnungen angebracht gewesen. Im Folgenden gebe ich dafür einige Beispiele (Wer mit traumatisierenden Gewalterfahrungen zu tun hat, liest besser erst ab dem * weiter untern wieder mit):
-Herzkranke Kinder, die zur Strafe für eine Schlammschlacht im Moorbad vom Klinikpersonal die ganze Nacht an Händen und Füssen schmerzhaft gefesselt auf Pritschen fixiert werden.
-Ein Junge, der von einer Pflegerin mit der Absicht, ihm bewusst wehzutun, mit hartem Wasserstrahl in der Nierengegend malträtiert wird, während er nackt am Boden liegt.
-Verängstigte Kinder, denen regelmässig von Ärzten oder Schwestern damit gedroht wird, sie zu entlassen, wenn sie nicht spuren, sodass sie schneller ihrem Leiden erliegen.
-Schmerzhafte Behandlungen, bei denen Kinder zu willenlosen Marionetten degradiert werden.
-Gewaltmärsche durch Eis und Schnee, um die Leidensfähigkeit der Patienten zu prüfen.
Vielleicht waren die Zustände in vielen ostdeutschen Kliniken zu der Zeit so. Ob das jedoch so in einem „modernes Wintermärchen“ (Klappentext), das die Lesenden auf Weihnachten einstimmen soll, erzählt werden muss? Die Atmosphäre in diesem Buch war für mich sehr bedrückend, weil niemand den Kindern wirklich und nachhaltig zu Hilfe kommt, und sie dem Pflegepersonal total ausgeliefert sind. Was daran „märchenhaft“ sein soll, erschliesst sich mir nicht.
Ich hätte mir eine kritische Auseinandersetzung mit dem geschilderten perversen Verhalten Erwachsener sterbenskranken Kindern gegenüber zumindest im Nachwort gewünscht. Diese erfolgt nicht, stattdessen erwähnt der Autor die vielen Menschen, die noch heute von ihrem Klinikaufenthalt als Kinder in diesem Haus „schwärmen“ (das Sanatorium gab und gibt es wirklich). Diese „Schwärmerei“ steht für mich inhaltlich im Widerspruch zu dem, was die Protagonisten des Buches erleiden müssen. In Zeiten, in denen allerorts so viele Missbrauchsfälle ans Licht und die Opfer hoffentlich endlich wirklich gehört werden, finde ich so eine kritiklose Übernahme ausgesprochen fragwürdig.
Ein Fragezeichen setze ich auch hinter die Erklärung für die plötzliche Heilung des Protagonisten. 100 Seiten lang leidet er unter den traumatisierenden und sein Herz bedrückenden heimischen Zuständen: Sein unberechenbarer Grossvater schlägt ihn und vor allem die Mutter regelmässig grün und blau, obwohl die Mutter den Lebensunterhalt für alle bestreitet. Wilhelm lebt während seines Kuraufenthaltes in ständiger Angst, ihr könne etwas so Schlimmes durch ihren Vater angetan worden sein, dass er sie nie mehr wiedersehen kann. Zu Hause anrufen darf er nicht.
Am Ende lösen sich Wilhelms Herzbeschwerden dann in Nichts auf, als er erfährt, dass der Opa nur deswegen so brutal war, weil er nach dem Krieg in Kriegsgefangenschaft geraten war. Plötzlich fällt Wilhelm wieder ein, wie lieb der Grossvater auch sein konnte, und er ist durch diese Erkenntnis wie befreit. Das hat für mich einen ganz schalen Beigeschmack. Das Thema „Gewalt gegen Kinder und Frauen“ darf man so nicht einfach auflösen.
*Während und nach der Lektüre habe ich mich gefragt: Welche Botschaft möchte der Autor mit seinem Buch eigentlich transportieren? Soll das Buch uns historische Einblicke in den Alltag von Kindern und die medizinische Versorgung in der DDR zur damaligen Zeit vermitteln? Dann wären aber, wie schon erwähnt, kritische und einordnende Worte im Anhang meiner Meinung nach unbedingt vonnöten gewesen. Bei mir hat sich leider der Eindruck festgesetzt, dass in diesem Buch psychische und physische Gewalt an Kindern als erzählerischer Kniff zugunsten einer weihnachtlich angehauchten Erzählung über Freundschaft genutzt werden. Die mögliche Liebesgeschichte, die sich zwischen dem 14jährigen Wilhelm und einer mehrere Jahre älteren Pflegeschülerin abspielt, konnte bei mir leider auch keine schöne Stimmung herbeizaubern. Im Gegenteil, ich habe sie als eher befremdlich empfunden.
FAZIT:
„Winterherz“ ist aus den oben genannten Gründen für mich persönlich leider ein bedrückendes Buch, das meiner Ansicht nach auch keinesfalls für Kinder geeignet ist. Daran ändert auch die wirklich schöne Covergestaltung nichts.
Informationen zum Buch:
Winterherz • Ralf Günther • Rowohlt Verlag • 1. Auflage 2023 • 144 Seiten • ISBN 978-3-463-00032-9
Roman
Unbezahlte Werbung:
Herzlichen Dank an den Rowohlt Verlag für die kostenlose Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplars.