Was von Dora blieb

Anja Hirsch


12. April 2021

INHALT:

 

Isa ist nach über 25 Ehejahren dahintergekommen, dass ihr Mann Paul sie mit einer anderen Frau betrogen hat. Tief verletzt und unfähig, mit ihm darüber zu reden, flüchtet sie in die Ferienwohnung einer Freundin an den Bodensee.

 

Auf der Fahrt dorthin macht sie einen Zwischenhalt bei ihrer Mutter, die sich auf den Umzug in eine Alterswohnung vorbereitet und ihre Wohnung ausräumt. Isa erhält von ihr einen Karton voll mit Erinnerungs- und Schriftstücken ihres Vaters und von dessen Mutter Dora. Beide sind nicht mehr am Leben. Isa nimmt die Kiste mit an den Bodensee und sichtet deren Inhalt zunächst eher widerwillig (denn sowohl Vater als auch Grossmutter waren keine liebevollen Personen), dann aber mit wachsendem Interesse.

 

 

Wer war Dora, diese unnahbare und furchteinflössende Matriarchin? Was hat sie als Mädchen, junge Frau und Mutter erlebt? Und wie sind Kindheit und Jugend ihres eigenen Vaters verlaufen?

 

Isas Recherche beginnt zeitlich kurz vor dem 1. Weltkrieg und endet mit dem Tod des Vaters vor wenigen Jahren. Je tiefer sie in ihre Familiengeschichte eintaucht, umso mehr erkennt sie, dass nicht nur die jeweiligen inneren Dispositionen ihrer Vorfahren, sondern auch die politischen und gesellschaftlichen Umstände markante und schwerwiegende Prägungen und Spuren hinterlassen haben. Bis hinein in die gegenwärtige Zeit, in ihr eigenes Leben, Fühlen und Denken.

 

Was von Dora blieb und bleibt, ist ihre Art des Umgangs und der Erziehung mit Isas Vater, die unmittelbaren Einfluss auf ihre Kindheit hatte. Nun ist es an Isa, dies zu erkennen und daraus ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und sich von einigem frei zu machen.

 

MEINE MEINUNG:

 

"Was meinen Vater weiterleben liess ... war genau das Gleiche, das mir selbst schon oft genug half: die Liebe zur Sprache."

 

 

Anja Hirsch erzählt in ihrem ersten Roman aus der Sicht der Kriegsenkelinnengeneration, zu der auch ich gehöre. Ich konnte mich daher in vielem von dem, was sie schildert wiederfinden. Ihr Schreibstil und ihre klugen Gedanken haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Dabei gibt sie auch gut verständliche Einblicke in die damaligen politischen und kulturgeschichtlichen Entwicklungen. Die historischen Informationen über die Geschichte der BASF oder der späteren Folkwangschule zum Beispiel fassen das, was man darüber möglicherweise schon weiss, verständlich zusammen.

 

In ihrem Roman reflektiert die Autorin auch die Frage, mit welcher Berechtigung und aus welchem Antrieb wir Enkel das Leben unserer Eltern und (Ur-)grosseltern recherchieren. Ist der „Glaube, den Nebel lichten zu können, im Grunde eine Anmassung?“ Oder dient er dazu, auch uns selber besser zu verstehen?

 

Ich persönlich denke, dass Letzteres zutrifft. Durch die Lektüre dieses Romans habe ich jedenfalls viele Verhaltensweisen aus der älteren Verwandtschaft nochmals reflektieren und besser einordnen können. Zwei Weltkriege haben die Unbeschwertheit und Hoffnungen der jeweiligen jungen Generation zunichte gemacht. Diejenige von Dora und die von Isas Vater Gottfried. Das kenne ich auch aus den Erzählungen meiner Familie. Väter kamen gezeichnet und verändert aus dem Krieg oder der Gefangenschaft zurück. Traumatherapie gab es noch nicht, die Verarbeitung des Erlebten oder Verschuldeten musste im Innern stattfinden und misslang häufig.

 

Das Nicht -Sprechen über Gefühle und die eigenen Wünsche, das beinahe zwanghafte Vermeiden von Konflikten, das Schweraushaltenkönnen von anderen Ansichten und Lebensentwürfen, das alles sind Verhaltensweisen, die auch ich bei vielen Verwandten meiner Eltern- und vor allem Grosselterngeneration kennengelernt habe. Und so wie Isa und die Autorin sehe auch ich, je älter ich selber werde, welche Spuren das wiederum in meiner Generation und meinem eigenen Leben hinterlassen hat. Dessen gewahr zu werden ist ein nicht immer einfacher, aber wichtiger Prozess. An dessen Ende nicht die Verurteilung stehen kann, sondern der Versuch zu verstehen ohne dabei Schönfärberei betreiben zu müssen.

 

FAZIT:

 

Meiner Ansicht nach ist „Was von Dora blieb“ ein gelungenes Debüt und ein reflektierter, wichtiger und empfehlenswerter Roman, dessen Thematik und Fragestellungen noch lange nachklingen und die Lesenden beschäftigen werden.

 

5 / 5

 


 Informationen zum Buch:

 

 

Was von Dora blieb • Anja Hirsch • C. Bertelsmann Verlag • Originalausgabe 2021 • 336 Seiten • ISBN 978-3-570-10396-8

 

Roman

 


 

Unbezahlte Werbung:

Vielen Dank an den C. Bertelsmann Verlag für die kostenlose Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplars.