Die Enkelin

Bernhard Schlink


04. Januar 2022

Als der 70jährige Buchhändler Kaspar eines Abends aus seinem Geschäft nach Hause kommt, findet er seine alkoholkranke und depressive Frau Birgit tot in der Badewanne vor. Ob es Selbstmord oder ein Unfall war, lässt sich nicht klären. Nachdem Kaspar die ersten Phasen von Schock, Trauer und Wut überwunden hat, beginnt er damit, in Birgits kleinem Zimmer aufzuräumen, in welches sie sich zuvor immer mehr zurückgezogen hatte, um an einem Roman zu schreiben. Als er auf das unvollendete Manuskript stösst, muss Kaspar bei der Lektüre feststellen, dass seine Frau viele Geheimnisse vor ihm hatte, von denen er nie etwas geahnt hätte. Kaspar aus der BRD und Birgit aus der DDR hatten sich in Ostberlin kennengelernt und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Dafür wäre der junge Student auch zu ihr in die DDR gezogen. Doch Birgit wollte dem Druck der Diktatur entkommen und mit Kaspar im Westen leben und lässt sich von ihm zur Flucht verhelfen. Dass sie zuvor ein Kind von einem verheirateten Parteifunktionär auf die Welt gebracht und ihrer Freundin Paula übergeben hatte, davon ahnte Kaspar nichts und sollte es auch nie erfahren. Bis zu dem Moment, an dem er es in Birgits Aufzeichnungen las. Aus ihnen sprechen tiefe Schuldgefühle dem zurückgelassenen Neugeborenen gegenüber und die Sehnsucht nach einem Kennenlernen des mittlerweile längst erwachsenen Mädchens.

 

Kaspar, welcher sich immer Kinder gewünscht hatte, beschliesst daraufhin, sich an Birgits Stelle auf die Suche nach der Stieftochter zu begeben. Sein einziger Anhaltspunkt ist Birgits alte Freundin Paula, deren Adresse er schliesslich herausfinden und sie dann auch in Ostdeutschland treffen kann. Von ihr erfährt er, dass Paula das Neugeborene damals (gegen Birgits Willen) dem richtigen Vater Leo und seiner Frau übergeben hat, anstatt es anonym vor dem Pfarrhaus abzulegen. Birgits Tochter Svenja wuchs also bei einem strammen Parteifunktionär und seiner schwachen Ehefrau auf, welche das Kind zwar liebten, aber mit ihrem Aufbegehren während der Jugendzeit nicht zurechtkamen und sie deshalb mehrmals in eine Erziehungsanstalt einweisen liessen. Die erwachsene Svenja hatte sich dann zunehmend radikalisiert, den Kontakt zu ihrem ungeliebten Elternhaus abgebrochen, lebte drogensüchtig auf der Strasse und verprügelte Ausländer. Ihr jetziges Zuhause ist ein Hof in einer mecklenburgischen nationalistisch völkischen Siedlung, deren Oberhaupt ihr Mann Björn ist. Kaspar fährt dorthin und lernt Birgits Tochter Svenja tatsächlich so weit kennen, wie es ihr despotischer Ehemann Björn erlaubt. Indes entdeckt der alte Mann auf dem Hof noch ein weiteres Familienmitglied, von dem er nichts ahnte: seine 14jährige Enkelin Sigrun. Kaspar möchte sie um jeden Preis kennenlernen und schlägt dem geldgierigen Björn einen Deal vor: Aus Birgits Erbe wird er ihm und Svenja hohe Geldbeträge überweisen, wenn Sigrun ihn in den Schulferien besuchen darf. Fortan bringt der Vater die Tochter regelmässig zu ihrem Grossvater, macht jedoch deutlich, über welche Themen gesprochen werden darf und was tabu ist. In allen diesen Ferien erschliesst der Grossvater seiner musisch begabten Enkelin die Welt der klassischen Musik und der Literatur, lässt sie Klavierstunden nehmen, unternimmt Reisen mit ihr und versucht behutsam, die nationalistische und völkische Konditionierung, in welcher Sigrun aufgewachsen ist, in Frage zu stellen und das Mädchen zum Nachdenken zu bringen. «Sigrun gehört Deutschland», hatte ihre Mutter zu Kaspar gesagt. In den Ferien jedoch gehört sie sich selbst und einer Aussenwelt, die sie eigentlich nicht kennenlernen darf.  Als der Vater eines Tages bei Sigrun ein Buch über Aussteiger aus der rechten Szene findet, verbietet er jeden weiteren Kontakt zwischen Grossvater und Enkelin. Björn gibt Kaspar die Schuld daran, dieser nimmt dies schweigend hin.

 

Erst zwei Jahre später begegnen sich Kaspar und Sigrun wieder. Sie hat sich inzwischen einer Gruppe gewalttätiger Autonomer angeschlossen, die im Kampf gegen die Linken und alles Andersartige ihre Bestimmung sehen. Als dabei Menschen sterben, sucht Sigrun Unterschlupf bei ihrem Grossvater, stiehlt heimlich seine Kreditkarte und setzt sich damit nach Australien ab.

 

MEINE MEINUNG:

 

Buchhändler Kaspar ist ein Feingeist, der als bildungsbürgerlicher Pfarrerssohn in seiner grenzenlosen Toleranz und Freundlichkeit nicht gelernt hat, Position zu beziehen und für sich selbst und seine Liebsten zu kämpfen. Stattdessen verschliesst er lieber einmal zu oft die Augen vor der Wahrheit und zieht sich still zurück, anstatt Grenzen zu setzen. Er weiss um diese Schwäche, kann aber nicht aus sich heraus. Dass es dieser Charakterzug ist, der auch Birgit zeitlebens an ihm gestört hat, muss er erst in ihren Aufzeichnungen lesen, und das trifft ihn schwer.

 

Kaspar versucht stets, zwischen den Fronten zu vermitteln. Sei es zwischen BRD und DDR oder zwischen Nationalistisch und Weltoffen. Aber der völkisch nationalistischen Bewegung und ihrer Holocaustleugnung kann man nicht mit Verständnis entgegentreten. Ebenso wenig sollte man das diktatorische Regime der SED im Nachhinein schönreden. Kaspar weiss das, kann aber nicht aus seiner Haut und schweigt lieber.

 

Gleichwohl habe ich es als eine der Stärken des Romans empfunden, dass selbst der Neonazi Björn nicht als ausschliesslich böse dargestellt wird. Ihm hat es Svenja zu verdanken, dass sie noch lebt, weil er sie seinerzeit aus der Drogensucht und von der Strasse weggeholt hat. Und auch seine Tochter liebt er von Herzen. Die Schilderung der völkischen Siedler ist dem Autor nach meinem Gefühl gut gelungen, gleitet aber stellenweise leicht in Klischees ab.

Auch die Bemühungen Kaspars um seine Enkelin mit seinen Klassikschallplatten, der (angeblich) heilen Welt in der Schweiz, der guten und schönen Welt der wahren Künste und Museen und seine Aussagen zur Toleranz lesen sich sehr schön, wirkten auf mich jedoch ein klein wenig zu blumig und die Dialoge mit Sigrun stellenweise etwas aufgesetzt und belehrend.

 

Sehr spannend und zeitlos aktuell lasen sich für mich Birgits Überlegungen und Gedanken zu Beginn des Romans:

 

Wie entkommt man den anderen? Wie entkommt man dem Druck und einer Erziehung, deren Ziel es ist, dass man es allen rechtmacht? Muss man sich verschliessen, um sich zu bewahren? Birgit will das nicht und entschliesst sich dazu, das eigene Leben und Glück zu verfolgen und flieht aus der DDR. Doch frei ist sie nicht. Sie bleibt ihr Leben lang rastlos auf der Suche nach Freiheit, nach sich selbst und danach, ihre Vergangenheit endlich loslassen zu können. Dabei sucht und findet sie immer wieder Entschuldigungen für ihr Verhalten und ihr Versagen. Schuld ist das System der DDR, schuld sind die Ablehnung und das Unverständnis der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen daran, dass sie das Studium abbricht. Sie probiert sich als Buchhändlerin, Goldschmiedin, Köchin, Schriftstellerin. Selbst der Aufenthalt in einem indischen Aschram hilft Birgit nicht, denn auch dort herrschen Ehrgeiz und Profitgier. So sind es die Umstände und der ewig verständnisvolle Kaspar, welche daran schuld sind, dass sie depressiv, lethargisch und alkoholabhängig wurde.

 

Bernhard Schlink wirft in diesem Buch viele wichtige Fragen auf:

 

Wohin führen die Unfähigkeit, für sich selbst einzustehen und der Drang, es allen rechtmachen zu wollen? Wäre es nicht für alle besser, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und darum denjenigen, die einen manipulieren und für eigene Zwecke missbrauchen wollen, im Innern und, sofern es möglich ist, auch im Äusseren Grenzen zu setzen?

 

Wie bewahrt man sich seine Menschlichkeit in unmenschlichen Systemen? Sei es innerhalb der eigenen Familie oder innerhalb eines politischen Gefüges.

 

Wem ist damit gedient, wenn angesichts einer erkannten Wahrheit notwendige Auseinandersetzungen und Diskussionen vermieden werden, weil man fürchtet, dadurch einen anderen möglicherweise zu verlieren?

 

Konkrete Antworten auf diese Fragen lässt der Verfasser bewusst offen und übergibt sie der Leserschaft zur individuellen Beantwortung.

 

FAZIT:

 

Bernhard Schlink behandelt in seinen Romanen gerne Phasen der deutschen Geschichte und beleuchtet die politischen Umstände, welche Menschen prägen und zu dem machen, was sie sind. Das ist auch in «Die Enkelin» so. Der Autor ist ein ruhiger und sensibler Erzähler, dessen Figuren einen noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind wichtig und aktuell und laden ein, sich eingehender mit der deutsch-deutschen Geschichte zu befassen und darüber, ruhig auch kontrovers, zu diskutieren. Mit «Die Enkelin» ist Schlink einmal mehr ein wichtiger, berührender und sehr tiefgründiger Roman gelungen, den ich sehr gerne weiterempfehle.

 

5/5


Informationen zum Buch:

 

Die Enkelin • Bernhard Schlink • Diogenes Verlag • Auflage dieser Ausgabe: 2021 • 368 Seiten • ISBN 978-3-257-07181-8

 

Roman


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Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für die kostenlose Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplars.