20. Januar 2022
In einer Zeit, als es in Deutschland noch den sogenannte Lehrerinnen-Zölibat gab, tritt die junge Antonie Weber ihre erste Stelle an. Als Waise aufgewachsen und nur durch einen glücklichen Zufall bei dem «Orden der Englischen Fräulein» in München zur Lehrerin ausgebildet, wird sie im Jahr 1911 von dort ausgeschickt nach Tannau. Dabei handelt es sich um ein hochgelegenes, ärmliches, bayerisches Bergdorf, in welchem die dörflichen Strukturen, Hierarchien und Rollenbilder starr zementiert und die Uhren offenbar stehengeblieben sind. Eine junge Frau als Lehrerin ist dort nicht erwünscht, und so schlägt Antonie von Anfang an ganz offen zur Schau getragene Ablehnung oder sogar Hass und auch Sabotage entgegen. Einzig der alte Dorfpfarrer und seine geistig etwas zurückgebliebene Hilfe Magda begegnen Antonie freundlich und unterstützen sie nach ihren Möglichkeiten. Doch auch die fast 50 Kinder aller Altersstufen, welche zusammen in einem Raum unterrichtet werden müssen, schliessen ihre neue Lehrerin und ihre freundliche Art zu unterrichten rasch in ihr Herz. Über sie gelingt es der jungen Frau, auch einen Grossteil der Eltern mit der Zeit für sich einzunehmen. Dabei muss Antonie beim Unterrichten ständig improvisieren, fehlt es doch an allen Ecken und Enden an Unterrichtsmaterial, einem intakten Klassenzimmer oder Brennholz für den Winter. Dieses wird ihr alles bewusst durch den Bürgermeister vorenthalten, um sie so rasch wie möglich wieder loszuwerden. Doch Antonie gibt nicht auf. Als der Prinzregent wenig später Tannau zu einem Jagdausflug besucht, ist er beeindruckt von dem, was Antonie bisher geleistet hat und gewährt daraufhin die finanziellen Mittel für Renovierungsarbeiten und neue Schulbücher. Damit scheint sich endgültig alles zum Guten zu wenden, doch die Missgunst einiger alter Dorfbewohner ist ungebrochen. Als Antonie von diesen bezichtigt wird, beim «Poussieren» mit dem Revierförster Sebastian gesehen worden zu sein, scheint alles verloren...
MEINE MEINUNG:
Der Pflicht-Zölibat für Lehrerinnen wurde in Deutschland erst in den 50er Jahren aufgehoben. Gerade für junge Frauen, die sich neben ihrer beruflichen Tätigkeit auch nach einer Partnerschaft und der eigenen Familie sehnten, war dies eine grosse und für einige nicht tragbare Bürde. Im Roman begegnen wir daher unter anderem einer Freundin von Antonie, die ebenfalls Lehrerin ist, sich aber dann verliebt und den Beruf mit der Heirat aufgeben muss. Auch Antonie selbst kommt ebenfalls in grosse innere Nöte, da sie durchaus Gefühle für Sebastian hat, welche dieser auch erwidert. Die endgültige Entscheidung für «Beruf» oder «Liebe» kann sie lange nicht treffen.
Bettina Seidl erschafft mit ihren lebhaften und anschaulichen Beschreibungen der dörflichen Strukturen, ihrer Bewohner und vor allem der Naturgewalten und -schönheiten eine faszinierende Atmosphäre, durch welche man sich als Leserin ganz nah in das Geschehen mithineingenommen fühlt. Ein Jahr lang begleiten wir Antonie auf ihrem Weg in Tannau und tauchen ein in den Kreislauf der Natur, nehmen teil an den Freuden und Leiden der Dorfbewohner, sehen Menschen sterben und erleben, wie neue geboren werden. Im Vordergrund steht aber immer das Wohlergehen der Kinder, welche Antonie anvertraut sind. Es ist berührend zu lesen, wie die junge Lehrerin sich zu jedem Kind ihre Gedanken macht und weniger nach den Defiziten, als vielmehr nach den Talenten und Begabungen jedes einzelnen Kindes sucht, um diese zu fördern und vor den oftmals strengen Eltern hervorzuheben. Antonie geht ihren Weg unbeirrt und lässt sich nicht entmutigen, sie ist stark für ihre Schüler. Gleichwohl sieht es in ihrem Innern oft dunkel und leer aus. Die Trauer darüber, dass sie selbst nie Eltern hatte und sich zeitlebens ungeliebt fühlt, beschreibt Bettina Seidl deutlich und einfühlsam. So ist es überhaupt eine Stärke und eine wichtige Botschaft dieses Romans, dass er beschreibt, wie sich auch im vermeintlich Schwachen und «Unnormalen» Schönheit und Stärke befinden, die anderen zugutekommen können, wenn man sie sich nur entfalten lässt.
«Die Dorflehrerin» liefert daneben auch ein anschauliches Bild über die gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen in dörflichen und städtischen Gemeinschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei letztere den anderen meist voraus waren. Die Aufbrüche in eine grössere Selbständigkeit und ein neues Selbstbewusstsein für Frauen, neue technische Errungenschaften oder ein Umdenken in der Pädagogik seien hier stellvertretend für viele andere erwähnt.
Insgesamt hat Bettina Seidl einen in sich stimmigen und sehr gut lesbaren Roman geschrieben. Vereinzelt gleiten die beschriebenen Szenen ein wenig ins klischeehaft Triviale ab, sodass man sich stellenweise tatsächlich in einer Ludwig Ganghofer Verfilmung wähnt. Dies tut aber dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch.
FAZIT:
«Die Dorflehrerin» beschreibt einfühlsam und spannend den Weg einer sympathischen, jungen Lehrerin, die sich in einer ihr fremden Welt gegen viele Widerstände für die ihr anvertrauten Kinder einsetzt und dabei zu einer starken Persönlichkeit heranreift. Ich empfehle diesen Roman gerne weiter.
Informationen zum Buch:
Die Dorflehrerin • Bettina Seidl • dtv Verlag • 1. Auflage 2021 • 384 Seiten • ISBN 978-3-423-21984-6
Roman
Unbezahlte Werbung:
Herzlichen Dank an den dtv Verlag für die kostenlose Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplars.