07. März 2023
Bestimmt kennen einige den Ghibli-Film «Das wandelnde Schloss». Die Literaturvorlage dafür stammt von derselben Schriftstellerin, von der ich heute ein weiteres Buch vorstelle. Es ist in neuer deutscher Übersetzung gerade im Knaur Verlag erschienen und heisst «Die verborgene Geschichte des Tom Lynn». Die englische Originalausgabe erschien bereits 1985, Diana Wynne Jones verstarb 2011. Ist die Geschichte um Tom Lynn gut? Ja, ich habe sie in einem Zug durchgelesen und finde sie toll. Ist das Buch rundum empfehlenswert? Ja, aber mit Einschränkungen.
Die 19jährige Polly Whittacker hat das Gefühl, dass sie sich an wichtige Episoden aus ihrem Leben einfach nicht mehr recht erinnern kann. Immer wenn sie ein Bild, das in ihrem Zimmer hängt, betrachtet, dringen vage Erinnerungsfetzen in ihr Bewusstsein, aber sie kann sie nicht ordnen. Die vergangenen vier Jahre erscheinen in wichtigen Teilen verschwommen, dennoch ist sich Polly sicher, dass es elementar wichtig ist, dass sie sich erinnert.
In Rückblenden wird die Leserin nun mitgenommen in eine Zeitreise, beginnend mit Polly als Zehnjähriger und endend mit ihrem 15. Lebensjahr. Als Kind gerät sie beim Verstecken- und Fangenspielen draussen mit ihrer Freundin zufällig auf das Gelände von Hunsdon House, einem unheimlichen und vornehmen Anwesen, auf dem gerade eine Trauerfeier stattfindet. Dort begegnet Polly dem Musiker Tom Lynn. Die beiden freunden sich an diesem Tag miteinander an, denken sich eine Heldengeschichte aus und bleiben fortan miteinander verbunden. Sie schreiben sich heimlich Briefe, unternehmen etwas miteinander, Polly besucht Tom in London, er schickt ihr Bücher. Die Freundschaft mit dem erwachsenen Mann bedeutet Polly viel, lenkt es sie doch von dem freudlosen Leben zu Hause ab, in dem ihre krankhaft eifersüchtige Mutter sich erst von ihrem Mann und dann von diversen Liebhabern trennt und immer wieder Polly dafür verantwortlich macht.
Polly lebt die meiste Zeit bei ihrer Grossmutter, welche sie schliesslich ganz bei sich aufnimmt. Ihre Granny steht der Freundschaft mit dem Musiker skeptisch gegenüber, der Besitzer von Hunsdon House jedoch schüchtert Polly regelrecht ein, lässt sie überwachen und verbietet ihr unter Androhung schlimmster Strafen den Kontakt zu Tom. Der Musiker war einst mit der schönen Laurel verheiratet, welche nun die neue Herrin auf Hunsdon House ist. Und tatsächlich geraten Tom und Polly bei ihren heimlichen Treffen immer wieder in lebensgefährliche Situationen. Als Polly schliesslich 15 Jahre alt ist, kommt es zu einer Eskalation zwischen ihr und Tom – und ab da ist ihre Erinnerung nur noch schemenhaft…
Meine Meinung:
«Die verborgene Geschichte des Tom Lynn» ist geheimnisvoll, spannend, aufregend. Was vordergründig als Coming of Age – Geschichte daherkommt, ist in Wirklichkeit ein gekonnter Mix aus Fantasy und altem schottischen Erzählgut. Die Autorin verwebt nämlich zwei Sagen in ihrem Buch zu einer neuen, aktuellen Geschichte. Die Ballade von «Tam Lin» hat die Rettung des Protagonisten Tam durch seine Geliebte zum Inhalt. Dadurch, dass sie beständig an ihm festhält, rettet sie ihn aus den Fängen der bösartigen Feenkönigin. In der Geschichte um «Tom den Reimer» geht es um einen jungen Mann, der die Gaben der prophetischen Voraussage und der Dichtkunst besitzt, niemals lügen darf und ebenfalls in die Fänge der Elfenkönigin gerät. Den einzelnen Kapiteln in Jones’ Roman sind denn auch jeweils Verse aus der einen oder der anderen alten Dichtung vorangestellt. Mit dem Wissen um diese beiden Geschichten entwirrt sich einiges in diesem Roman, das vordergründig zunächst unklar erscheint. Auch deswegen ist «Die verborgene Geschichte des Tom Lynn» kein Kinderbuch, auch wenn es wie ein solches beginnt. Ich halte aber auch aus einem anderen Grund einen eher erwachsenen, distanzierten Blick auf die Geschichte für angebracht. Denn das Verhältnis von einem erwachsenen Mann zu einem zehnjährigen Mädchen, welches ihn auch immer wieder alleine besucht, und welches er mit ständigen (Buch-) Geschenken bedenkt, wirkt zumindest befremdlich, wenn nicht fragwürdig. Es ist Pollys unschuldige Zuneigung zu ihm, welche Tom sich letztendlich tatsächlich zu Nutze macht (wenn auch nicht direkt mit erotischen Hintergedanken). Ob aus den beiden dann schliesslich ein Liebespaar wird, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber dieses Ungleichgewicht zwischen den beiden Hauptfiguren hinterlässt bei mir irgendwie einen fahlen Beigeschmack, so sehr ich die Lektüre des Buches auch genossen habe.
Fazit:
Unbedingt empfehlenswert, weil kunstvoll und genial erzählt und überlegt. Aber mit einem kritischen Auge zu lesen.
Informationen zum Buch:
Die verborgene Geschichte des Tom Lynn • Diana Wynne Jones • Droemer Knaur Verlag • 1. Auflage 2023 • 416 Seiten • ISBN 978-3-426-52291-2
Übersetzung: Wolf Harranth
Jugendbuch ab 14 Jahren
Unbezahlte Werbung:
Herzlichen Dank an den Droemer Knaur Verlag für die kostenlose Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplars.
Rechte für das Autorenfoto beim Verlag.